Rede auf dem Sindelfinger Kirchentag

29.06.2013

(Es gilt das gesprochene Wort)

Meine Damen und Herren,
liebe Gäste,

bevor ich mich mit dem heutigen Thema befassen werde, möchte ich gerne meinen Dank aussprechen, dass wir im Rahmen des 750jährigen Jubiläums der Stadt Sindelfingen einen solchen Dialog, einen ökumenischen Dialog einerseits und dazu einen Dialog zwischen Kirche und Politik ermöglicht bekommen. Sie werden es bereits dem Programm entnommen haben: ich stehe hier vor Ihnen nicht als Theologe, sondern als protestantischer Laie, und ich werden Ihnen in den nächsten 30 Minuten einen Laienvortrag über ein schwieriges Spannungsverhältnis zwischen Religion, Politik und Gesellschaft halten. Ich stehe hier aber auch als jemand, der seit fast 10 Jahren als Kommunalpolitiker Verantwortung für die Gestaltung der Nachbarstadt Böblingen trägt und der im Landtag regelmäßig mit Entwicklungen in unseren Städten zu tun hat.

Persönlich danken möchte ich Herrn Norbert Brüderl, der dies alles möglich gemacht hat. Und nun möchte ich mich dem Thema bzw. dem Bibelvers widmen, der meinen Ausführungen zugrunde liegt.

„Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm bis an den Himmel …“ (Genesis 11,4)

Dieser kurze Satz aus Genesis 11,4 steht wie kaum ein anderes Zeugnis für Größenwahn und Hybris der Menschen. Dieser Turmbau ist der Versuch der Menschheit, sich zu Göttern zu erheben, Gott selbst gleichzukommen. Und für diese Selbsterhebung straft Gott die Völker, die davor eine gemeinsame Sprache hatten, mit Sprachverwirrung. So können sie den Turm nicht weiterbauen und werden über die ganze Erde zerstreut.

Die Errichtung einer mächtigen Stadt mit jenem Turm, der bis in den Himmel reichen soll, so wie es im alten Testament beschrieben ist: das erscheint uns doch als eine Sünde, als ein wahrhaft gottloses Werk. Und insofern ist man geneigt zu fragen: Stadt und Kirche, muss man diese als Konkurrenten betrachten?

Und dabei reden wir nicht nur über biblische Erzählung selbst. Sondern sie dient uns als Gleichnis über alle Zeiten hinweg. Wie verhalten sich Gott und Stadt zueinander? Erst dann mag man die Frage stellen, wie sich Stadt und Religion vereinbaren lassen?
Vor etwa einem Jahrhundert hat der expressionistische Dichter Georg Heym den „Gott der Stadt“ besungen, in äußerst düsteren Farben.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knien um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.
Wie Korybanten – Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Motiv der Großstadt, hier im Zeitalter der Industrialisierung, ist durchgehend negativ besetzt. Die materialistische Stadt wird verbunden mit der Zerstörung der Natur, auch der natürlichen Prinzipien, der Rauch der Schlote gleicht Opfergaben. Die Stadt bedeutet die Anonymität der Massen, das pulsierende Großstadtleben wird als extatischer „Korybanten-Tanz“ von Millionen Menschen beschrieben. Die Stadt ist verbunden mit Unruhe und Unfrieden. Die Menschen der Stadt haben sich von Gott abgewandt, sie verehren einen Götzen, den Baal, der rachsüchtig und jähzornig über ihrem Schicksal steht.

Auch das Ursprüngliche wird in jenem Gedicht zum Ausdruck gebracht, die Häuser, die fern der Stadt noch in unberührter Natur stehen und sich dem Einfluss dieses städtischen Abgottes entziehen. Sie sind nicht Teil jener Zersetzung, die Georg Heym so drastisch geschildert hat. Hier, abseits der Stadt, erscheint die Schöpfung noch echt und gesund. Die Stadt dagegen scheint im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassen.

Ist es so, dass die Stadt wenigstens potentiell ein so schwieriges Verhältnis zu Gott hat?

Denn dieses biblische Gleichnis von der Hybris und der Selbsterhebung der Menschen findet sicherlich auch in unserer heutigen schnelllebigen Zeit seine Entsprechung, gerade in den Städten.

Noch immer stehen Städte in vielerlei Hinsicht für die Superlative, die Menschen zu schaffen im Stande sind. Viele Millionen Menschen leben in den größten Metropolen der Erde, ständig schießen neue Türme in den Himmel, die immer noch höher, noch größer, noch moderner werden. Städte stehen für Wohlstand und wirtschaftliche Stärke, aber sie stehen auch für ökonomische Exzesse.

An den großen Finanzplätzen dieser Welt werden in Windeseile Billionen bewegt, in glänzenden Bankentürmen, chromverkleidet und von schwer bewaffneten Sicherheitsdiensten geschützt. Menschen hasten anonym von einem Ort zum anderen, jeder versucht für sich allein, das Bestmögliche zu erreichen, Hektik, Konkurrenz und Ellenbogenmentalität prägen das Bild.

Ja, da möchte man die Frage stellen, wo passt Gott, wo passen Glaube und Gottvertrauen in dieses Bild? Die Frage beschäftigt uns auch heute: Welche Bedeutung hat die Religion in der Stadt? Diese Diskussion wurde in den vergangenen Jahrzehnten vornehmlich von dem Begriff der säkularen Stadt bestimmt. Urbanität wurde zu einem Synonym für Säkularisierung und Entkirchlichung. Wo, wenn nicht in großen Städten, erwarten wir also den Rückzug von Religiösität? Eindrucksvoll wurde das in London und mehreren spanischen Großstädten unter Beweis gestellt. Da gab es vor wenigen Jahren eine groß angelegte Atheismus-Kampagne. Durch die englische Hauptstadt fuhren hunderte Busse mit der Aufschrift: „Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Jetzt mach Dir keine Sorgen und genieß Dein Leben!“

Es scheint also vieles dafür zu sprechen, dass die Religion, in unserem Fall maßgeblich die christliche Religion, es schwer hat in der Stadt.

Ich will Stadt und Kirche dennoch nicht einfach als Konkurrenten betrachten, auch wenn beide sicherlich in einem vielschichtigen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Dieses Verhältnis möchte ich ein wenig beleuchten, und mich dabei von den Jahrtausende alten Geschichten in die heutige Zeit bewegen.

Das frühe Christentum hat sich in den Städten organisiert. Die Verbreitung des Evangeliums wurde in den Stadtgesellschaften forciert und schon die Mitglieder dieser Gemeinden nutzten die gegebene Struktur, die urbanen Bedingungen, um die frohe Botschaft und den Glauben an Jesus Christus und seine Lehre zu vermitteln. Sie nahmen Charakterzüge städtischer Gesellschaften positiv auf, die bis heute gleich geblieben sind. Städtische Orte sind gekennzeichnet von einem Pluralismus der Lebensweisen und Werthaltungen auf engstem Raum, verbunden mit einem großen Maß an individueller Freiheit. Diese Voraussetzungen dienen bis heute allen Religionsgemeinschaften, um für die je eigenen Überzeugungen zu werben. Das Christentum stellt dabei keine Ausnahme dar.

Die enge Verbindung zwischen einer städtischen Umgebung und der Ausbreitung des Christentums, die mit zum Erfolg der ersten missionarischen Konzepte in der Antike beigetragen hat, hält bis in unsere Zeit an. Missionarische Bewegungen der Kirchen erreichen Menschen in größerer Anzahl vor allem im städtischen Umfeld, und das in allen Teilen der Erde. Und Städte sind vielfach religiöse Orte, das ist eine historische Tatsache. In ihrem Mittelpunkt finden sich häufig Kirchen oder andere Orte der Religionsausübung, seltener dagegen Schlösser oder sonstige weltliche Denkmäler.

Kirche und Stadt müssen also keineswegs Konkurrenten sein. Denn sie teilen als Räume, in denen sich Menschen treffen, in denen Menschen miteinander leben, gemeinsame Ziele verfolgen, gemeinsamen Idealen folgen, eine bedeutende soziale und gesellschaftliche Funktion. Aber sie teilen auch gemeinsame Herausforderungen. Denn wir nehmen in den Städten eine zunehmende Entsolidarisierung wahr, eine Rückzug in bestimmte soziale Milieus, die streng getrennt voneinander sind, immer größer werdende Unterschiede zwischen den Stadtteilen.

Die Idee der Stadt lebt auch vom Vorhandensein öffentlicher Räume, von Begegnungsstätten für alle Menschen: Ob das nun der Marktplatz ist, Kirche, Stadtparks, Spielplätze oder Sportstätten: es sind Orte, die diese Stadt auszeichnen und die für Ihre Menschen Identifikationspotential liefern. Das ehrenamtliche Engagement vieler Menschen hat diese öffentlichen Räume im Wissen um deren Notwendigkeit über Jahrhunderte bereitgestellt und gepflegt. Wir erleben aber seit einigen Jahren eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die zu einer fatalen Entwicklung führt: diese Räume werden zunehmend „privatisiert“ und der Allgemeinheit zugunsten eines zahlenden Kunden entzogen. Städtische Verantwortung wird schrittweise preisgegeben, wenn etwa Einrichtungen aus einer öffentlichen in eine private Trägerschaft überführt werden: Stadtteilbibliotheken, Galerien oder städtische Museen werden privatisiert, auf ehrenamtliches Engagement „umgestellt“ oder einfach geschlossen. Mobilität wird nicht mehr als Grundrecht, sondern als Ware verstanden – für sozial Schwache wird bereits eine einfache innerstädtische Busfahrt zu einem Luxusartikel. In Schwimmbädern oder vergleichbaren Einrichtungen werden die Gebühren so angehoben, dass die Eintrittspreise für ganze Bevölkerungsgruppen zum Problem werden. Einrichtungen von öffentlichem Interesse, Einrichtungen für die Allgemeinheit werden so der Logik des freien Markts zum Fraß vorgeworfen.

Neue Treffpunkte sind dagegen die Einkaufsmeilen, Die Passagen und Konsumzentren in den Innenstädten. Man hat sie oft als „Kathedralen des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Verkaufsoffene Sonntage sind an der Tagesordnung, nicht nur in diesen neuen Kathedralen. Der Sonntag, der als Ruhetag am 7. Tage der Woche eine biblische Begründung findet, verkommt zu einem ökonomischen Störfaktor, der die Bilanzen eintrübt.

Und natürlich sind diese Konsumtempel fest in privater Hand, sie dienen nicht dem innerstädtischen Geist und Solidaritätsgefühl der Menschen, sie dienen nur noch dem Profit. Nicht zuletzt der private Sicherheitsdienst signalisiert auf drastische Weise, wer willkommen ist und wer nicht. Die öffentlichen Orte, an denen Begegnungen gerade zwischen unterschiedlichsten Milieus stattfinden konnten und die bisher zur Normalität der Städte gehörten, werden auf diese Weise Schritt für Schritt zurückgedrängt. Damit geht auch der Geist der Stadt verloren.

Dahinter verbirgt sich eine immer größere Kluft zwischen Arm und Reich, die sich in den sozialen Beziehungen der Menschen, im Zustand der Städte, in Kriminalitätsstatistiken und anderen Phänomenen niederschlägt. Was früher eine Stadt war, ist heute oft nur noch die Zentralverwaltung verschiedener Quartiere, die oft keinerlei Bezug mehr zueinander haben und deren Bewohnerinnen und Bewohner sozial und weltanschaulich strikt voneinander getrennt leben. Dazu tritt neben die Polarisierung von Arm und Reich eine Unterscheidung zwischen heimisch und fremd, und diese Phänomene überlagern sich gegenseitig. Zuwanderer suchen in der Stadt nach Quartieren, in denen ihre Landsleute bereits ansässig sind. Solche Einwanderungsquartiere erleichtern das Einleben und sind damit eine notwendige Begleiterscheinung der Migration. Schwierig wird es aber, wenn in Städten aus der freiwilligen eine fest verwachsene Trennung wird, die mit einem sozialen und ökonomischen Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft verbunden ist. Die Bildung von so genannten „Parallelgesellschaften“, das was man als Gentrifizierung bezeichnet, hat in solchen räumlichen Abgrenzungen einen Ausgangspunkt. Problematisch wird die Polarisierung von Einheimischen und Fremden auch dadurch, dass die Zuwanderung zunehmend konkurrierend auf dem Arbeitsmarkt wirkt und daher bei den „Verlierern“ des ökonomischen Strukturwandels zu Recht auch Ängste auslöst. Die Aufspaltung in „heimisch – fremd“ kann auch in der politischen Landschaft der Stadt die Polarisierung verstärken und Extremismus, Ausgrenzung und Vorurteilen Aufwind geben.

Die mit der insgesamt zunehmenden Heterogenisierung und Polarisierung in den Städten verbundene Segregation gehört zu den größten Herausforderungen der gegenwärtigen Stadtentwicklung. Die verschiedenen Spaltungstendenzen führen im ungünstigen Fall zu einer Herausbildung von Gewinner- und Verliererquartieren. Ist dieser Prozess einmal in Gang gesetzt, verstärkt sich die Trennung der Quartiere, indem jeder, der es sich leisten kann, in besser gestellte Quartiere zieht.

Genauso beobachten wir auch eine Entkirchlichung, eine Zurückdrängung des Glaubens in den Städten. Längst sind Glaube und Religiösität keine Selbstverständlichkeit mehr, in vielen Städten gehört nur noch eine Minderheit der Bürgerinnen und Bürger einer christlichen Konfession an. Menschen treten aus der Kirche aus wie aus einem Verein, nur um Geld zu sparen. Der kleinste Teil der Bevölkerung nimmt noch aktiv am Gemeindeleben teil, besucht Gottesdienste oder Gemeindefeste. Die Kirchen sind in europäischen Städten nicht nur anderen Glaubensgemeinschaften gegenüber gestellt, allen voran dem Islam, sie treffen vor allem immer häufiger auf individualistische, säkulare Lebenseinstellungen, die scheinbar keinen Platz für Gottesglauben, auch für ein wenig Demut und Gottesfürchtigkeit lassen.

Und wir fragen uns: inwieweit hängen all diese Phänomene miteinander zusammen? Sind es die bedenklichen sozialen und ökonomischen Entwicklungen in den Städten, das Auseinanderdriften der Gesellschaft, die Bildung von Milieus, die Entsolidarisierung der Gesellschaft, die eine Schwächung von Glauben, von Spiritualität und Religiösität zur Folge haben. Wem die Gemeinschaft von Menschen, das Miteinander und Mitgefühl nichts bedeutet, dem bedeutet auch die religiöse Gemeinschaft nichts? Tragen Stadt und Kirche das gleiche Los? Spiegeln sich an Ihnen parallele, vergleichbare gesellschaftliche Entwicklungen? Und sind sie sich sogar gegenseitig verpflichtet?

Ich möchte unterstellen, dass Kirche und Stadt nicht nur historisch, sondern ganz alltäglich viel enger zusammenhängen, als es gemeinhin wahrgenommen wird. Ohne den diakonischen Einsatz der Kirchen, würde unser Sozialsystem, gerade in den größeren Städten mit höherem sozialem Spannungspotential, von einem Tag auf den anderen zusammenbrechen.

Hier vergegenwärtigt sich die Gnade und die Barmherzigkeit Gottes, die Lehre von Jesus Christus, in einem alltäglichen Einsatz für die Menschen, gerade für die Schwächsten der Gesellschaft. Die Kirchen leben und wirken in der Solidarität mit den Schwachen, und sie stehen ein für die Achtung von Minderheiten. Auf diese Weise tragen sie bei, leben sie und fördern sie einen Geist von Güte und Nächstenliebe in der Stadt.

Keine Stadt – auch nicht die reichste – wäre in der Lage, Pflegeheime, Kindergärten, Jugendgruppen, Begegnungsstätten, Freizeitangebote, Bildungsinstitutionen und vieles mehr selbst zu organisieren und zu finanzieren. Der Erhalt und Unterhalt weltberühmter Sehenswürdigkeiten durch die Kirchen, die viele Touristen in die Städte locken, sei am Rande bemerkt. Die Kirche nimmt dadurch längst Teil; hat Anteil am Schicksal der Stadt, an den städtischen Notlagen, aber auch an ihrer Vielfalt und ihrem Reichtum.

Die Kirchen leisten einen einzigartigen Beitrag zur Entwicklung einer Stadtkultur, wenn sie sich für die Wiedergewinnung und Gestaltung von Räumen – im lokalen, geistigen und geistlichen Sinne – einsetzen. Von Räumen, in denen Menschen in der Stadt mit Leib und Seele leben können. Und die moderne Stadt braucht Kirchen, die sich nicht aus der Öffentlichkeit herausstehlen, sondern sich ihrer öffentlichen Verantwortung als Teil der Stadtgesellschaft und als ihr Gegenüber bewusst sind.

Und umgekehrt brauchen die Kirchen die Städte, um den Auftrag von Liturgie und Diakonie umzusetzen. Hier leben zumindest in unserem Land die meistens Menschen – wo, wenn nicht in den Städten wäre das originäre Betätigungsfeld für die Glaubensgemeinschaften und ihre Institutionen?

Dieser Gedanke führt mich zu einer anderen Bibelstelle, zum Hebräerbrief und der diesjährigen Jahreslosung:
Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Der Verfasser dieses neutestamentlichen Hebräerbriefes schreibt am Ende des ersten Jahrhunderts an Christen, die müde geworden sind und Gott wie sich selbst nichts mehr zutrauen. Es sind Menschen, die sich mit den Gegebenheiten abgefunden haben, wie sie sind. Sie erwarten wenig von ihrer diesseitigen Existenz. Aber sie suchen eine zukünftige Stadt im Reich Gottes.

Unser Leben ist eine ständige Suche, aber Gott ist dabei die große und verlässliche Konstante. Daher ist es nur konsequent, wenn Gottesglauben und Religion eine wichtige Rolle auch in unserer weltlichen Existenz spielen. Denn Teilhabe am Glauben und am geistlichen Leben der Kirche ist auch ein Beitrag für die Lebensdienlichkeit der Stadt. In diesem Glauben wirkt die biblische Vision vom himmlischen Jerusalem in unsere Zeit, und sie wirkt ganz konkret und keineswegs nur in geistigen Dimensionen.

Für mich bedeutet das: So wie es die Jahreslosung sagt, wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Das heißt, diese zukünftige Stadt wollen wir errichten, Eine Stadt für alle Menschen, eine Stadt in Vielfalt und Toleranz, eine Stadt, in der jeder Mensch einen Platz hat. Eine Stadt, in der auch der Schwächste aufgenommen und behütet wird. Eine Stadt, in der jeder seinen eigenen Weg gehen kann. In der jeden einen Platz des Wohlbehagens hat. Eine Stadt des Friedens, nicht der Feindschaft und Ausgrenzung.

Die Kultur der Freiheit, die das Zusammenleben der Menschen in der europäischen Stadt bis heute prägt, beruht auf der Idee der Achtung des Anderen, der grenzüberschreitenden Toleranz und Anerkennung.

Das war in biblischer Zeit nicht anders. Jesus erzählt auf eine Fangfrage der Schriftgelehrten hin, wer denn „mein Nächster“ sei, das Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“. Dieser ist der ethnisch Fremde, der sogar als Feind gelten konnte. Dieser Fremde wird durch Jesus zum Vorbild gelebter, Grenzen überwindender Nächstenliebe. Aus einer solchen Entgrenzung kann eine Kultur des Miteinanders der Fremden in der Stadt entstehen.

So stelle ich mir jene zukünftige Stadt vor. Die Stadt ist ein Ort für alle, so wie die Kirche ein Ort für alle ist. Eine Stadt muss als Gemeinschaft von Menschen, als liebenswerter Ort zum Leben einladend sein für alle Menschen. Jesus hat sich mit den Schwächsten, aber auch mit den von der Gesellschaft ausgestoßenen solidarisiert. Mit Bettlern und Kranken, aber auch mit dem gierigen Zöllner. Er hat sich allen zugewandt, hat sie alle eingeladen, und diesen Geist hat er auch der Gemeinschaft seiner Jünger und Anhänger mit auf den Weg gegeben.

Dieser Geist macht unseren christlichen Glauben, unsere Vorstellung von der Nächstenliebe aus. Aber sie ist doch auch eine ganz weltliche Botschaft. Eine Botschaft von Frieden und Solidarität, eine Botschaft von Mitmenschlichkeit. Und in diesem Geist wünsche ich mir auch das Zusammenleben der Menschen überall auf der Welt, aber eben gerade in den Städten mit ihrem besonderen sozialen Profil. Und an dieser Stelle scheint mir die theologische Botschaft und die säkulare Forderung allzu eng miteinander verbunden zu sein. Sicher, unser Grundgesetz sichert die Würde des Menschen, sichert soziale Grund- und Menschenrechte. Unser Grundgesetz definiert auch den Sozialstaat, der zu Recht Verfassungsrang hat. Darin lesen wir sowohl eine christliche Botschaft, als auch die Werte der Aufklärung, und beides hat die Entwicklung von Rechtstraditionen in unserem Land geprägt.

Es sind insofern säkulare Werte, als dass sie von staatlicher Seite eine säkulare Sicherung, etwa durch das Grundgesetz, erfahren. Aber die Begründung dieser Werte, die ist doch immer aus der Botschaft von Jesus Christus heraus zu denken. Denn eine Würde, die Gott uns verleiht durch unser Menschsein, die kann uns auch kein anderer Mensch nehmen. Und dadurch spielt der Glaube in allen Zeiten, und gerade heute, in der er scheinbar immer weiter zurückgedrängt wird und aus der Lebensrealität vieler Menschen verschwindet, eine umso wichtigere Rolle.

Doch was macht eigentlich diesen Glauben aus? Sind es Rituale und Traditionen, oftmals erstarrt und leblos, oder ist es ein lebendiges, jeden Tag wiederholtes Bekenntnis? Sind es Formen und Konventionen, ist es reine kirchliche Folklore, oder ist es die Vorstellung, der feste Glaube an den Wert der Liebe an sich?

Ich bin überzeugt, dass es die Fähigkeit zur Erneuerung ist, die Kirche und Religion auf Dauer zu einem wichtigen Akteur, einer unersetzlichen Instanz in unseren Städten macht. Dabei ändern sich Ausdrucksformen, ändern sich Rituale, ändern sich auch die Angebote, die von den Kirchen ausgehen.

Ich habe bereits von dem Ausverkauf der städtischen Angebote an die Allgemeinheit gesprochen. Auch die Kirche muss Angebote schaffen, muss sich öffnen und zu den Menschen kommen, so wie Gott selbst immer wieder neu zu den Menschen kommt und sie in seine Arme nimmt. Martin Luther hat vor 500 Jahren die Bibel ins Deutsche übersetzt und Gottesdienste in der Sprache der einfachen Menschen gefordert. Er hat das getan, damit der Zugang zu dem Geschenk der Religion und des Glaubens nicht einem privilegierten Kreis vorbehalten bleibt.

Meine Damen und Herren, ich möchte damit zum Ende kommen. Sie werden bemerkt haben, dass ich persönlich Stadt und Kirche keineswegs als Konkurrenten betrachte. Ich sehe sie als Partner, zweifellos mit einem ambivalenten Verhältnis, die aber dennoch untrennbar zueinander gehören. Die Stadt ist ein Ort der Freiheit. Das ist sie nicht unabhängig von Kirche und Religion, und schon gar nicht trotz Kirche und Religion. Alexis de Tocqueville sagte sinngemäß: die Despotie kann ohne Glauben existieren. Die Freiheit nicht. Insofern ist die Stadt als Ort der Freiheit auch ein Ort des Glaubens. In dieser Übersetzung gestalten wir das Leben in unserer Stadt, mit der Kirche und ihrem unersetzlichen Engagement.

Führen wir uns damit noch einmal die Jahreslosung vor Augen:
Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Diesem Bibelzitat haftet doch etwas Hoffnungsvolles an. Es ist der nach vorne gerichtete Blick, der Glaube an die Zukunft. Dieser Glaube an die Zukunft ist hier gleichbedeutend mit dem Glauben an Gott. Und somit ist Gott selbst in der Stadt, die wir suchen.