„Es herrscht der absolute Personalmangel“

Bei einem Online-Fachgespräch zum Thema Pflege von SPD-Landtagskandidaten Florian Wahl und der SPD Böblingen wird mehr Personal und Arbeitszeit-verkürzung für Pflegekräfte gefordert.

Der SPD-Landtagskandidat hatte am Montagabend, den 9. November 2020 zusammen mit der SPD Böblingen ein Online-Fachgespräch zum Thema „Pflege der Zukunft – wie werden aus Applaus substanzielle Verbesserungen?“ mit der Pflegebeauftragten der SPD-Bundestagsfraktion und Göppinger Bundestagsabgeordneten Heike Baehrens und der früheren Landessozialministerin Katrin Altpeter, sowie drei Altenpflegerinnen aus dem Kreis Böblingen veranstaltet. „Nachdem die Pflege kurzzeitig während des ersten Lockdowns im Frühjahr große gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhalten hatte, sind bisher grundsätzliche Verbesserungen ausgeblieben, dabei muss sich offensichtlich etwas in diesem Bereich tun,“ so Florian Wahl.

In ihrem Impulsvortrag berichtete die Pflegepolitikerin Heike Baehrens von den Verbesserungen, die die Bundesregierung in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht hat, von der „konzertierten Aktion Pflege“, über Verbesserungen in der Weiterualifizierung von Pflegehilfskräften zu Pflegefachkräften, aber auch wie man die Digitalisierung in der Pflege vorantreiben und wie man die Entlohnung für Beschäftigte in der Pflege in Zukunft auf eine stabile Basis stellen kann, sowie über Verbesserungen in der Kurzzeitpflege, die noch in dieser Legislaturperiode kommen werden.

Heimbewohner*innen konnten ihre Angehörige nur über den Zaun sehen

In der anschließende Gesprächsrunde berichteten Birgit Häberle, Altenpflegerin bei der Sozialstation Aidlingen, Pia Ellen Böttcher, die im Pflegeheim Haus an der Schwippe in Darmsheim arbeitet und Kirsten Liebscher, stellvertretende Leitung der Tagespflege im „Böblinger Haus“ der Sozialstation Böblingen über den Alltag in der Pflege während der Coronakrise. Katrin Altpeter, die seit dem Ende ihrer Ministerzeit eine Berufsfachschule für Altepflege leitet, schilderte, was die aktuelle Situation für junge Menschen bedeutet, die in diesen Zeiten gerade eine Ausbildung für den Pflegeberuf machen. „Unsere Schule musste während des Lockdowns schließen und viele Schüler*innen hatten nicht die technischen Möglichkeiten um an den Online-Angeboten teilzunehmen. Wir haben dadurch Menschen für die Pflege verloren – und das in diesen Zeiten, wo wir sie so dringend brauchen. Wir haben weniger Schüler*innen als in anderen Jahren,“ berichtet Katrin Altpeter weiter.

Pia Ellen Böttcher berichtete über die schwierige Zeit des ersten Lockdowns. „Wir haben das Pflegeheim für Besucher*innen schließen müssen. Angehörige durften nicht mehr kommen. Sie durften nur noch am Eingang Dinge für die Bewohner*innen abgeben. Viele Bewohner*innen haben psychisch sehr gelitten,“ so die Altenpflegerin. Man habe Bewohner*innen zu festen Zeiten in den Garten gebracht, damit sie mit Sicherheitsabstand wenigsten über den Zaun ihre Angehörigen sehen konnten.

Birgit Häberle, die im ambulanten Dienst die Pflegebedürftigen zu Hause besucht, schilderte, dass es bei der Schutzausrüstung am Anfang an allem gemangelt habe. Sie persönlich habe seit Anfang März ihre privaten Kontakte „auf Null reduziert“, um kein Ansteckungsrisiko für die alten Menschen zu sein. „Ich bin seitdem nicht mehr in der Kirche oder im Chor gewesen,“ so Birgit Häberle. Ihre Kolleg*innen würden auch dies so handhaben.

Bei der Tagespflege im Böblinger Haus seien ganz viele Menschen zunächst während des ersten Lockdowns nicht mehr gekommen, weil die Angehörigen Sorge hatten, ob sie dort sicher seien. „Da unsere Gäste aber kaum andere Kontakte haben, sind sie bei uns sehr sicher. Wir haben strenge Hygienemaßnahmen, Sicherheitsstände werden ganz penibel eingehalten und alle werden mit Maske vom Fahrdienst nach Hause gefahren bzw. abgeholt,“ so Kirsten Liebscher, die sei aber zunächst leider nicht richtig kommuniziert worden. Alle drei Altenpflegerinnen berichten, dass sie im Berufsalltag nicht prophylaktisch auf Corona getestet werden.

Härte der Arbeit durch mehr Personal anerkennen 

Katrin Altpeter zeigte sich nicht allzu optimistisch, dass sich die Wertschätzung der Gesellschaft für die Pflege mit Corona deutlich verbessere „Ich musste fast ironisch lächeln als alle auf dem Balkon standen, um für die Pflege zu klatschen, aber als es um den Pflegebonus ging, machten manche Träger ganz schnell einen Rückzieher“. Wertschätzung zeige sich an der Bezahlung, aber vor allem auch, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern würden. „Die Härte der Arbeit muss anerkannt werden, in dem mehr Personal zur Verfügung gestellt wird,“ so Altpeter. „Es herrscht Personalmangel, der absolute Personalmangel,“ pflichtet Kristen Liebscher bei. „Wir haben zu wenig Pflegekäfte. Die, die da sind, sind chronisch überlastet, weil sie ständig einspringen müssen, um die Kolleg*innen und die zu Pflegenden nicht im Stich zu lassen.“ Birgit Häberle fordert, dass es zu einer Arbeitszeitverkürzung kommen muss, um die körperlich schwere Arbeit auszugleichen. „Wer 100 Prozent arbeitet, sollte nur 34 Stunden arbeiten, anstatt 40. Eine 40-Stundenwoche ist unter den aktuellen Bedingungen nicht in Ordnung.“

In ihrem Schlussfazit beschrieb Heike Baehrens die Herausforderung der Zukunft: „Wir müssen die Arbeitsbedingungen auf allen Ebenen verbessern, auch im Bereich der Krankenpflege. Mir ist es auch ein wichtig, dass wir die Pflege nicht isoliert betrachten, denn oft beginnt das schon mit Unterstützung im Alltag. Aus diesem Grund muss man auch die Berufe rund um die Pflege wie die Hauswirtschaft und die Sozialbetreuung in den Blick nehmen und für bessere Rahmenbedingungen sorgen.“