„Mich soll keine 67-jährige Krankenschwester heben“

Quelle: Kreiszeitung von Siegfried Dannecker 16.11.12

Ein relaxt-humorvoller SPD-Parteivorsitzender Sigmar Gabriel begeistert beim 14. Politischen Martini in Darmsheim die Genossinnen und Genossen

Im Fernsehen wirkt er größer und bisweilen etwas hölzern. Beim Politischen Martini der Kreis-SPD in der alten Darmsheimer Turn- und Festhalle überraschte SPD-Parteichef Sigmar Gabriel gestern jedoch nicht nur durch politische Schlagkraft. Sondern auch durch Gelöstheit und Humor. Am Ende waren die Genoss(inn)en hellauf begeistert.

DARMSHEIM. Mal wieder buchstäblich ein politisches Schwergewicht auffahren zu können – das ist der SPD im Kreis recht. Auch wenn es bis zur Bundestagswahl immerhin noch zehn Monate hin ist, wirken die Sozialdemokraten ein Jahr vor dem 150. Geburtstag der Partei motiviert und optimistisch, das Ruder herumreißen und die schwarz-gelbe Regierung ablösen zu können. „Wir haben“, schalt Gabriel unter Lachern, „keine Bundesregierung. Sondern wir haben im Kanzleramt die größte Nichtregierungs-Organisation.“

Beim Turbinen-Hersteller Alstom in Wiesloch war der 53-Jährige im Tagesverlauf gewesen, um dort über Energiepolitik zu sprechen. Und wenn man dann schon mal in der Nähe ist, kann man ja auch einen Abstecher nach Darmsheim machen. So muss der Deal gelautet haben. Und so kreuzte der Mann, den man selten ohne Anzug im Rampenlicht sieht, pünktlich um halb sechs im Audi auf, um im Bezirksamt die lokale Presse zu empfangen.

Eine Presse, die Gabriel – sagt er zumindest – „ungemein schätzt“, weil sie – anders als die großen Blätter – viel glaubwürdiger für die Menschen vor Ort sei und Nähe herstelle. Also das tue, was die Politik doch letztlich auch sein müsse: „Ein Handeln im öffentlichen Interesse.“

   Zunächst einmal ist Gabriel im Bezirksamt der Wahlschwäbin Sieglinde Schmidt in die Arme gelaufen. Und als die Vorzimmerdame des Ortsvorstehers berlinerte: „Schön, dass ick Sie auch mal kennen lerne“, war der Mann aus Goslar gleich gelöst: „Was für eine schöne Begrüßung“, sah er sich im schwäbisch-kargen Sitzungssaal um. Und fragte, ob Sindelfingen „ein eigener Ort oder ein Stadtteil von Stuttgart“ sei. Nun ja, sehen wir ihm den Fauxpas nach. Wer 500 Kilometer weit weg lebt und sehr ländlich („bei Euch hier geht ja alles ineinander über“), kann sich schon mal irren. Auch als Gabriel sich dann in der Turn- und Festhalle freute, „in Böblingen zu sein“, reagierte das Publikum nicht etwa unwirsch. Sondern verständig. Gabriel wusste das zu überspielen: „Wir in Goslar haben die Kreisreform bis heute nicht verdaut.“ Und fortan wusste er auch, wo er war.

Wo er politisch steht, machte er anschließend deutlich. Gutes Geld für gute Arbeit und damit auch eine gute Rente – dieses Credo müsse wieder gelten, geißelte der SPD-Spitzenmann Zeit- und Leiharbeit. Sechs bis acht Millionen Menschen in Deutschland arbeiteten für weniger als acht Euro in der Stunde. Trotz Vollzeit sei das dann so wenig, dass man am Ende des Monats beim Sozialamt betteln gehen könne. 1,5 Millionen Menschen seien auf öffentliche Hilfen zur Ernährung angewiesen – die Tafeln -, zeigte sich Gabriel entrüstet.

„Dir soll es mal besser gehen als mir“ – unter diesen Worten sei er noch aufgewachsen. Heute indes hätten viele Eltern Angst, dass ihre Kinder es mal schlechter hätten als sie oder ihre Großeltern. Gabriel: „Ich war gerade in Halle in Sachsen/Anhalt. Da mussten 800 Mitarbeiter der Sparkassen über 100 Tage dafür streiken, um von 7,53 Euro auf 8,50 Euro zu kommen – und das nach 15 Jahren!“

„Nach 45 Beitragsjahren muss es auch mal gut sein“

Thema Rente: „Nach 45 Versicherungsjahren muss es gut sein und man muss abschlagsfrei in Rente gehen können“, forderte der SPD-Grande und zählte Berufe auf, wo man nicht bis 67 malochen könne: als Fliesenleger zum Beispiel oder als Dachdecker. „Und ich will von keiner 67-jährigen Krankenschwester gehoben werden“, ulkte Gabriel in eine volle Halle: „Warum wird an dieser Stelle eigentlich immer gelacht. . .?“ Wer krank sei, dürfe deshalb nicht auch noch arm werden, verlangte er eine Bürgerversicherung und die Besteuerung von Vermögens- und Kapitalerträgen: „Selbst bei Kohl war der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent, heute ist er bei 49.“ Außerdem dürfe es nicht wahr sein, dass „die Brüder, die Spekulanten an den Finanzmärkten die Weltwirtschaft in den Keller reißen – allein 100 Milliarden in Deutschland – und dann nicht dafür büßen müssen.“

Eine Breitseite feuerte Gabriel auch auf die Kanzlerin ab. Merkel sei vor Jahren mal rausgerutscht, wie sie denke, als sie gesagt habe: „Ich will eine marktkonforme Demokratie.“ Er, Gabriel, indes wolle das genaue Gegenteil: „Ich will demokratiekonforme Märkte. Wir brauchen eine Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft mit Spielregeln, wie wir sie schon mal hatten und die uns groß gemacht haben. Unsere Eltern und Großeltern haben es schon einmal geschafft, den Kapitalismus zu bändigen.“

Auch das Thema Peer Steinbrück umschiffte Gabriel nicht. Der habe Fehler gemacht, seine Nebeneinkünfte aber auch freiwillig komplett offengelegt: „Anders als die Jungs auf der anderen Seite. Da, wo wir sagten, wir machen das zum Standard im Abgeordnetengesetz, haben die sich in die Büsche geschlagen. Das ist heuchlerisch.“

Apropos Vortragshonorare: Sigmar Gabriel hat gestern Abend keines bekommen. Sogar die Gans war ihm ganz egal. Der Mann der Diäten trank nur ein paar Schluck Wasser, sonnte sich im Beifall und musste schnurstracks wieder zurück nach Berlin.