Reformation ist wie Halloween: Raus auf die Straße und hin zu den Menschen“

Religionspolitische Diskussion des SPD-Landtagskandidaten Florian Wahl mit Lars Castellucci MdB

Den Reformationstag, Samstag, den 31. Oktober 2020, nutzte SPD-Landtagskandidat Florian Wahl zu einer Online-Veranstaltung über „Religionsfreiheit in Zeiten der Pandemie“. Zusammen mit Gerlinde Feine, Böblinger SPD-Stadträtin und Stadtkirchenpfarrerin hatte er den Beauftragten für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion und Abgeordneten aus Wiesloch Professor Dr. Lars Castellucci, MdB , zu Gast im virtuellen Wohnzimmer. Mit ihm diskutierten Professorin Maria Berner-Senn, Direktorin des Seminars für Ausbildung und Fortbildung von Lehrkräften Rottweil (Gymnasium) und Mitglied im Zentralrat der deutschen Katholiken (ZdK) sowie im Diözesanrat Rottenburg-Stuttgart und Diakon Johannes Söhner, Bildungsreferent im Evangelischen Kirchenbezirk Herrenberg und Mitglied der Württembergischen Landessynode (Gesprächskreis Offene Kirche). Aufgrund der steigenden Infektionszahlen musste die Veranstaltung in den virtuellen Raum verlegt werden. Der Veranstaltung sind mehr als 40 Menschen im Livestream gefolgt. Am Wochenende wurde die Aufzeichnung auf Facebook über 1000 Mal aufgerufen.

„In den vergangenen 503 Jahren seit der Reformation gab es nicht viele Zeiten, in denen über mehrere Monate Gottesdienste von staatlicher Seite verboten gewesen sind,“ begründet Wahl die Einladung zu dem Gespräch, das live auf Youtube und Facebook verfolgt werden konnte, und Feine fügt hinzu: „Auch wenn diese Maßnahmen alle verständlich und auch richtig waren, laden sie doch zu der Diskussion ein, wie es um die Religionsfreiheit steht, immerhin ist es ein Grundrecht in unserer Verfassung.“

In seinem Impulsvortrag ging Lars Castellucci zunächst auf die Frage ein, warum Kirchen bei einem zweiten Lockdown nun offen bleiben dürften. Dass selbst namhafte Politiker*innen dafür kein Verständnis hätten, zeige, „dass wir mit der religiösen Alphabetisierung auch in den Parlamenten noch zu tun haben“, so Lars Castellucci. Die Religionsfreiheit hätte im Grundgesetz einen herausgehobenen Stellenwert. Anders als etwa in Frankreich dürfe Religion im öffentlichen Raum gelebt werden und sei nicht nur im Privaten geschützt. Wenn dies in unserer Gesellschaft Vergessenheit gerate, müssten sich alle Religionsgemeinschaften gemeinsam dagegenstellen und Aufklärungsarbeit leisten – auch in den Parlamenten.

„Das Grundrecht auf Religionsfreiheit ist für die SPD ein sehr hohes Gut. Die Menschen sollen ihre Religion und ihren Glauben ausleben können, deswegen sind Gottesdienste wichtig“, so Castellucci. Religionsfreiheit heiße jedoch auch, die Freiheit zu haben, keinen Glauben auszuleben und jeder Form von Religion skeptisch gegenüberzustehen. Deshalb gehöre es zu einer positiven, zugewandten Religionsfreiheit, bewusst Religionsgemeinschaften und Glauben zu fördern, und zwar nicht nur den christlichen, sondern auch alle anderen Glaubensgemeinschaften auch. „Es darf nicht sein, dass die Christen ihre Religionsfreiheit haben, aber die anderen, zum Beispiel Muslime haben sie nur, wenn sie sich vermeintlich anständig verhalten,“ so Castellucci. „Das finde ich nicht angemessen, weil es oftmals mit einer Unterstellung einhergeht.“

Der Reformationstag sei für ihn immer auch mit Trauer verbunden, so Castellucci: „Es ist immer auch das Trennende in diesem Tag. Es ist so viel Uneinigkeit in dieser Welt, wo man mit Einigkeit leuchten sollte, deswegen finde ich diese christliche innere Uneinigkeit schmerzlich.“ Aus diesem Grund sei ihm der interreligiöse Dialog ein großes Anliegen. „Solange wir – evangelische und katholische – getrennt sind, ist es eine Wunde.“

Im anschließenden Gespräch mit Professorin Maria Berger-Senn, Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und im Diözesanrat der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Diakon Johannes Söhner, Mitglied der evangelischen Landessynode Württemberg, und Leiter der evangelischen Erwachsenenbildung Herrenberg gab es zunächst ebenfalls sehr persönliche Statements zur Bedeutung des Reformationstags. So verwies Söhner darauf, dass es ohne die Reformation mit ihrem Ruf zur Freiheit ihn als evangelischen Christen so nicht gäbe. Er bemängelte, dass dieser Tag in der öffentlichen Wahrnehmung de facto keine Rolle mehr spiele. Reformation dürfe nicht allein als historisches Ereignis gesehen werden. „Kirche muss sich ständig reformieren. Wir müssen aufbrechen und rausgehen. Die Spaltung in der Gesellschaft zwischen Glaubend und Nichtglaubend ist das große Thema und nicht die Spaltung zwischen den Kirchen. Reformation heißt auf die Straße gehen – wie bei Halloween, da geht man auch raus zu den Menschen.“

Maria Berger-Senn verwies darauf, dass ja der Reformationstag gesetzlich schulfrei sei, nur merke man das nicht, weil er immer in den Herbstferien läge. Für die katholische Kirche hat dieser Tag keine Bedeutung, er wäre in keinem Kalender zu finden. „Formal gibt es ihn nicht.“ Aber man könne eigentlich den Reformationstag und Allerheiligen übereinander legen, denn da feierten die Christen, dass sie die Kraft von Gott bekommen hätten, in dieser Welt zu wirken. „Wenn die katholische Kirche auch einmal den einen oder anderen heilig spricht, dann ist das zwar schön, aber eigentlich sekundär“. Der Reformationstag sei ein Tag, um über diese „merkwürdige Spaltung“ die es seit 503 Jahren gäbe, nachzudenken. „Wir müssen Entscheidungen für mehr ökumenischen Miteinander treffen. Die Menschen wollen nicht, dass wir uns streiten, sondern sie wollen mehr Einigkeit.“
Auch Stadtkirchenpfarrerin Gerlinde Feine betonte die innere Nähe von Reformationstag und Allerheiligen. Es sei ja kein Zufall gewesen, dass die Veröffentlichung von Luthers 95. Thesen am Vorabend dieses Festes passiert sei. Die Verflechtung der theologischen Kernaussagen müsse wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kommen.

Zu den eindrücklichen Berichten, wie das kirchliche Leben sich während der Corona-Zeit verändert hatte, kamen persönliche Einsichten zu geistlichem Leben in der Situation des Lockdown, und Florian Wahl, SPD-Landtagskandidat und Kirchengemeinderat der Stadtkirchengemeinde Böblingen schloss daran die Frage an, wie man wohl auf das Weihnachtsfest 2020 zugehen könne. In seiner Funktion als Böblinger Stadtrat forderte er: „Von Seiten der Stadt muss alles dafür getan werden, dass Weihnachtsgottesdienste stattfinden können, und wo die Kirchen zu klein sind für den Besucherandrang, ist es wichtig, dass dafür städtische Räume wie die Kongresshalle zur Verfügung gestellt werden.“ Maria Berger-Senn rief nochmals in Erinnerung: „Bei Weihnachten geht es in erster Linie nicht um Lebkuchen und um Weihnachtsmärkte, sondern um die Geburt Jesu Christi und das werden wir auf jeden Fall feiern können.“ Johannes Söhner meinte zum Abschluss: „Durch die erste Welle von Corona sind wir digital auf Weihnachten sehr gut vorbereitet, und ich bin mir sicher, unabhängig davon, wie die Infektionslage bis dahin wird: Weihnachten wird gut werden.“