„Dieser Widerspruch reißt an mir“

Persönliche Gedanken zum Krieg in der Ukraine ein Jahr nach dem russischen Einmarsch.

Es ist schon ein ganzes Jahr her. Am 24. Februar 2022 ist die russische Armee früh morgens in die Ukraine eingefallen. Putins ursprünglicher Plan, die Ukraine innerhalb weniger Tage komplett einzunehmen, ist kläglich gescheitert. Stattdessen führte der russische Überfall zu einem offenen Krieg, zu Tod und Zerstörung, zu Flucht und Vertreibung, zu Angst und Schrecken. Seit 365 Tagen wütet dieser Horror, gezeichnet von russischen Kriegsverbrechen und unbeschreiblichem Leid der Menschen in der Ukraine. Der Krieg ist zurück in Europa, auf Befehl einer russischen Führung rund um Wladimir Putin, die Menschenrechte mit Füßen tritt, jegliche internationale Abkommen bricht und nur noch das Recht des Stärkeren gelten lassen will.

In den ersten Tagen und Wochen des Krieges habe ich jedes Detail verfolgt, jede Ticker-Meldung gelesen und jede Talkshow gesehen. Aber mit der Zeit nahm das ab. Ich fühle mich abgestumpft. Ich nehme Nachrichten aus der Ukraine wahr und verfolge die Debatten in Deutschland und Europa, aber irgendwie habe ich Angst, dass die Existenz dieses Krieges in meiner Wahrnehmung mit der Zeit immer normaler wird. Dabei ist daran rein gar nichts normal! Unendliche viele Leben wurden zerstört, unzählige Menschen sind für immer gezeichnet, unsägliches Leid geschieht jeden Tag.

Ich persönlich habe für mich noch immer keinen nachhaltigen Weg gefunden, mit dieser Realität umzugehen. Noch immer weiß ich nicht so recht, was das für mich, mein Leben, meine Einstellungen und meine politische Arbeit eigentlich bedeutet. Das ist ein ständiger Aushandlungsprozess mit mir selbst. Ich glaube auch tatsächlich, dass es keinen routinierten Umgang mit dem Krieg geben kann oder darf. Denn Krieg ist nicht normal und darf es niemals werden!

Ich bin überzeugt, dass Russland diesen Krieg auf keinen Fall gewinnen darf und finde es richtig, dass die Bundes-regierung dabei an der Seite der Ukraine steht. Besonders dankbar bin ich für das besonnene Vorgehen von Olaf Scholz in dieser Krise. Gleichzeitig wurde mein Weltbild im letzten Jahr aber auch sehr erschüttert. Meine Grundeinstellungen zu Sicherheitspolitik, Militär und internationalen Dynamiken haben sich verändert. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht auch ein Stück meines Grundoptimismus verloren habe. Auf der anderen Seite, finde ich es unfassbar beeindruckend, wie viel Kraft wir als europäische Gesellschaft im letzten Jahr gezeigt haben. Ich bin sehr dankbar über die große Solidarität, die Menschen entgegenkommt, die aus der Ukraine fliehen mussten. Besonders deutlich konnte ich das bei einer Reise ins polnisch-ukrainische Grenzgebiet im letzten Frühjahr erleben.

Wir haben es geschafft, uns nicht spalten zu lassen. Nicht in unserer Solidarität mit der Ukraine. Nicht in unserer eindeutigen Ablehnung des Krieges. Nicht im Kampf um Energiesicherheit in Europa, der uns allen immernoch so viel abverlangt. Wir sind zusammengeblieben und haben als Gesellschaft wirklich enorm viel geleistet. Als Teil dieser gemeinsamen Anstrengungen fühle ich mich sinnvoll. Ich weiß, wie wichtig es ist, dass wir alle unseren Teil dazu beitragen, zu zeigen, wie stark die Freiheit und Demokratie in Europa eigentlich ist. Andererseits fühle ich mich aber auch ohnmächtig. Ich sehe Bilder aus der Ukraine, höre die Nachrichten und frage mich, wie das alles ein Ende finden kann. Dieser Widerspruch reißt an mir. Auf alle Fälle fühlt es sich an, als ob es ein Jahr nach Beginn dieses so unnötigen und einfach furchtbaren Krieges immer noch viel mehr Fragen als Antworten gibt. Aber was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Welt sich unsicherer anfühlt.