Krisen Gestalten – nicht nur Verwalten!

Florian Wahl plädierte für eine aktive Krisenpolitik.

Die multiplen Krisen unserer Zeit werden in diesen Tagen erschreckend greifbar. Sie betreffen fast alle von uns inzwischen ganz persönlich, beschränken unsere Freiheiten, limitieren unsere Möglichkeiten. Nachdem viele Menschen 30 Jahre lang vor allem Sicherheit und Wohlstand kannten, sind nun rauere Zeiten angebrochen.

Häufig ist es unser erster Impuls – auch meiner –, Krisen als vorübergehende Phänomene zu beschreiben. Nach dem Motto: „Wir müssen das jetzt aushalten, und dann wird schon wieder alles ‚normal‘“. Ein solches Krisenverständnis hat etwas tröstliches. Es gibt jetzt eben eine Krise, aber die geht irgendwie vorbei. So wirkt alles natürlich und in Ordnung.

Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass wir Krise anders wahrnehmen müssen – denn unsere Wahrnehmung prägt unseren Umgang. Wir sollten Gesellschaft nicht als einen Körper verstehen, der halt ab und zu eine Krankheit durchmachen muss, bevor er wieder gesund wird. Denn all die Krisen, die wir gerade erleben – ob Klima-, Corona-, Energie-, Migrations- oder Lebenskostenkrise –, sind eng mit gesellschaftlichen Dynamiken verflochten. Sie werden von uns geprägt, und prägen uns zugleich. Das sind nicht einfach vorübergehende Phänomene, die wir aushalten müssen. Krisen verändern uns, verändern unser Zusammenleben, unsere Rahmenbedingungen, unsere Zukunft.

Vielleicht sollten wir Krisen stattdessen ein bisschen so wie Aristoteles verstehen, der von einem Moment der Entscheidung spricht. Für ihn werden Krisen zur Diagnose entstehender gesellschaftlicher Probleme, die zum Eingreifen der Politik führen. Anstatt Krisen einfach passiv auszuhalten, betont diese Krisendefinition die aktive Entscheidungs- und Gestaltungsmacht gesellschaftlicher Akteure. Sie betont die enorme verändernde Kraft von Krisen, und macht uns darauf aufmerksam, dass wir mit dieser umgehen müssen.

Damit meine ich übrigens ausdrücklich nicht so abgedroschene Weisheiten, à la „in jeder Krise steckt eine Chance“. Ich will nicht irgendwelche angeblichen positiven Elemente der Krise herausheben. Im Gegenteil, ich finde, wir sollten unser Leid, unsere Sorgen, unsere Ängste annehmen und anerkennen. Wir sollten aber gleichzeitig nicht zurück schauen, sondern nach vorne. Wir sollten die Gegenwart nicht mit dem Ziel der Rückkehr in die Vergangenheit verwalten, sondern sie mit dem Blick in die Zukunft gestalten. Im vollen Bewusstsein, dass das viel schwer ist, als einfach auf die Rückkehr des „Normalen“ zu hoffen. Es ist ein Weg voller Ambiguitäten und Widersprüche, die gesellschaftlich ausgehandelt werden müssen.

Beginnen muss das in der Lokalpolitik hier bei uns in Böblingen – ganz konkret. Lasst uns nicht vor allem reagieren und die Krise verwalten, sondern nach vorne schauen und die Krise gestalten. Lasst uns gerade jetzt aktive Entscheidungen treffen. Lasst uns gemeinsam, im Gespräch, eine neue Zukunft aushandeln, Kraft zur Veränderung zeigen und neue gesellschaftliche Konzepte als Antwort auf die Krisen erarbeiten.