„Ohne Bürokratieabbau wird sich die Situation in der ärztlichen Versorgung nicht verbessern“

Der SPD-Landtagskandidat Florian Wahl hatte zusammen mit der Sindelfinger SPD-Stadträtin und Ärztin an der Sozial- und Arbeitsmedizinischen Akademie Baden-Württemberg Birgit Wohland-Braun eine Online-Veranstaltung zum Thema „Ärztemangel – wie sichern wir die Versorgung unserer Gesellschaft?“ eingeladen. Als Gäste waren der Vorsitzende des Sozialausschuss des Landtags und SPD-Gesundheitspolitiker Rainer Hinderer, sowie Dr. Dorothee Kadauke, die bis 2019 eine eigene Hausarztpraxis in Sindelfingen führte und Stadträtin für die Freien Wähler im Sindelfinger Gemeinderat ist, Dr. Günther Wöhler, Hausarzt aus Leonberg, stellvertretender Vorsitzender der Kreisärzteschaft und SPD-Kreisrat, sowie Dr. Ingo Sika, Zahnarzt mit eigener Praxis und Sindelfinger Stadtrat für die Freien Wähler. 

 

„Mir war es ein sehr großes Anliegen, dass wir zusammen mit den Ärzt*innen vor Ort über die Situation der Versorgung sprechen, denn die Versorgungssituation ist in den vergangenen Jahren auch bei uns immer ernster geworden – und zwar nicht allein bei den Hausärzten, sondern auch in anderen Bereichen,“ so Florian Wahl.

 

Der Gesundheitspolitiker Rainer Hinderer stellt in seinem Impulsvortrag ein 7-Punkte-Papier vor, was getan werden müsse, um die Hausarztsituation zu verbessern. „Es werden in den nächsten Jahren viele Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand gehen, das Verhältnis von Work-Life-Balance bei dem ärztlichen Nachwuchs hat sich verändert, so dass wir eine noch größere Herausforderung bei der ambulanten Versorgung vor uns haben,“ so Hinderer. 

 

 

 Deswegen brauche das Land mehr Ärztinnen und Ärzte insgesamt und somit mehr Studienplätze, da habe die jetzige Landesregierung vier Jahre verschlafen. Des Weiteren brauche es schnellere Verfahren zur Anerkennung ausländischer Studienabschlüssen, eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingung für Ärzt*innen, um die Abwanderung ins Ausland zu stoppen. Es bedarf mehr Anreize um eine Fachausbildung für Allgemeinmedizin. Und mehr Weiterbildungsstellen in den Hausarztpraxen. Insgesamt muss die Stellung des Hausarztes als Lotse im Gesundheitssystem gestärkt werden. Im Bereich des Studiums brauche es Alternativen zur jetzigen Vergabe von Studienplätzen. „Es kann nicht sein, dass man nur mit einem 1,0-Abitur Medizin studieren kann,“ so Hinderer. Eine Landarztquote beim Studium wie von der Landesregierung beschlossen, lehnt Hinderer explizit ab. „Das wirkt frühestens in elf Jahren. Das ist zu spät.“

 

Birgit Wohland-Braun, selbst auch in der Kreisgesundheitskonferenz aktiv, beschrieb die Versorgungssituation im Landkreis Böblingen wie folgt: „Wir spüren, dass die Probleme in der ärztlichen Versorgung im Landkreis Böblingen ankommen. Es ist nicht mehr nur ein Problem des ländlichen Raums. So sind in Böblingen und Sindelfingen nur noch 87 Prozent der Hausarztstellen besetzt. Noch drastischer sieht es bei der psychotherapeutischen Versorgung aus. Aber auch im Bereich der Kinderärzte verschlechtert sich die Situation hier bei uns sehr. Der niedergelassene Arzt ist im Schnitt 55,1 Jahre alt. Daraus lässt sich ableiten, auf was für eine Welle von Praxisschließungen wir zulaufen,“ so Birgit Wohland-Braun.

 

Hausarzt Dr. Günther Wöhler mahnte an, dass eine Versorgung von 87 Prozent viel zu wenig sei, weil selbst wenn es eine 100 Prozent Versorgung gebe, dies nicht ausreiche. Die Bemessungszahlen, wie solch ein Versorgungsgrad zu berechnen ist, seien Jahrzehnte alt und würden auch die veränderte Lebenseinstellung der jüngeren Generation bezüglich Work-Live-Balance nicht berücksichtigen. „In Wirklichkeit ist das Defizit sogar noch viel größer, als es die Zahlen im Kreis Böblingen zeigen,“ warnt Günther Wöhler.

 

Dr. Dorothee Kadauke betrieb bis 2019 mit ihrem Mann und einer Kollegin die erste 3-er Praxis in Sindelfingen. „Als wir aufhören wollten, habe ich keine Nachfolge gefunden, somit wurde aus der 3-er Praxis eine Einzelpraxis und unsere zwei Arztsitze sind verloren gegangen,“ so Dr. Dorothee Kadauke. Als Grund fügte sie zu den genannten Gründen wie Work-Life-Balance an: „Die überbordende Bürokratie macht uns kaputt, vor allem die kleinen Praxen.“ Die jetzigen bürokratischen Anforderungen könne eigentlich nur noch ein Praxisverbund oder ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) leisten. „Die Bürokratie hält viele junge Ärzte ab, eine eigene Praxis zu gründen, die gehen oftmals lieber in die Anstellung.“  Politik muss anfangen das zu verschlanken, sonst wird sich die Versorgungssituation nicht verbessern können.“

 

Birgit Wohland-Braun ergänzt, dass durch die Praxisaufgaben von drei Hausärzten in Sindelfingen im Jahr 2019 allein 4300 Menschen auf der Suche nach einem neuen Hausarzt waren.

 

„Auch bei uns im Zahnärztlichen Bereich beginnen die Probleme mittlerweile. Ein Kollege gegenüber meiner Praxis hat drei Jahre gesucht und hat keinen Nachfolger gefunden. Wir haben zwei bis drei Praxen in unserem Einzugsbereich verloren, was dazu führt, dass das Patientenaufkommen riesengroß wird,“ so Dr. Ingo Sika. „Die exzessive Bürokratie, Verwaltungsaufgaben und überzogene Hygieneauflagen sind der entscheidende Punkt. Wenn mich heute jemand fragt, ob ich mich nochmal niederlasse, würde ich ganz klar sagen: Nein,“ so Ingo Sika. 

Auch wenn er Fan von Digitalisierung sei, seien ihm nicht verständlich warum nur zum Vorteil der Krankenkassen digitalisiert werde und immer zu Lasten von Zahnärzten und Ärzten. „Die Auflagen werden immer höher mit einer stillen Honorarabsenkung, da es keine passenden Systeme gibt, wie dieser zusätzliche Aufwand ausgeglichen werden kann.“

 

Günther Wöhler verwies auf dem Strukturwandel innerhalb der Ärzteschaft. „Das ist mittlerweile ein mehrheitlich weiblicher Beruf und deswegen braucht es neue Antworten bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf,“ so der Leonberger Hausarzt. Wöhler weiter: „es muss mehr Teilzeitangebote geben bis wir ausreichend Studienplätze haben. Wir müssen ganz akut und ganz schnell die Bedingungen für Frauen im Medizinberuf verbessern.“

 

Florian Wahl abschließend zur Diskussion: „Als jemand der selbst im Gesundheitsbereich arbeitet, bekomme ich jeden Tag mit, wie angespannt die Situation in den Praxen ist. Die ambulante Versorgung ist das Rückgrat unseres Gesundheitssystems und es braucht ganz konkrete Schritte wie Bürokratieabbau und verbesserte Bedingungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um zukünftige Praxisgründungen auch für die nächste Generation zu ermöglichen.“