„Wir sind komplett allein gelassen“

Fachgespräch zum Thema „Brennglas Schule – wie gelingt gerechte Bildung unter Pandemie-Bedingungen? 

Der SPD-Landtagskandidat Florian Wahl hat am Mittwoch, den 25. November 2020, zu einem Online-Fachgespräch zum Thema Schulpolitik in Zeiten der Corona-Pandemie zusammen mit dem bildungspolitischen Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Dr. Stefan Fulst-Blei eingeladen. Zusammen mit dem Bildungsexperten diskutierten die Schulleiterin der Sindelfinger Gemeinschaftsschule im Eichholz Barbara Knöbl, Farina Semmler, stellv. Landesvorsitzende und Böblinger Kreisvorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, die Elternbeirätin vom Max-Planck-Gymnasium in Böblingen Lucienne Graupe und Paul Schiller, Oberstufenschüler vom Albert-Einstein-Gymnasium Böblingen über die aktuelle Situation in den Schulen im Kreis. „Durch Corona sind Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen einer absoluten Stresssituation und großer Unsicherheit ausgeliefert. Mir ist es ein Anliegen, dass wir vermehrt mit den Betroffenen ins Gespräch kommen und auf sie hören, um die Situation, wie sie jetzt ist, besser zu machen. Das passiert momentan auch hier vor Ort viel zu wenig,“ so Florian Wahl. In seinem Impulsvortrag legt der Bildungspolitiker Dr. Stefan Fulst-Blei dar, was während der Corona-Pandemie an den Schulen zurzeit falsch liefe und was besser werden müsse. Kultusministerin Susanne Eisenmann habe die Zeit im Sommer nicht genutzt, um die Schulen für eine zweite Welle im Herbst vorzubereiten. „Ich bin schockiert, wie wenig Konzepte an den Schulen für Wechselunterricht, für ausreichende Räumlichkeiten, aber auch für die Lehrerfortbildung vorbereitet wurden – von der Digitalisierung erst gar nicht zu sprechen,“ so Fulst-Blei. Es sei versäumt worden die Schulen auf Unterricht im Winter vorzubereiten. So sei es bei Minusgraden nicht möglich, Unterricht bei offenen Fenstern zu machen. „Alternativen zum Lüften sind überhaupt nicht erst geprüft worden,“ berichtet Fulst-Blei aus dem Bildungsausschuss. Zudem hole die Landesregierung die Versäumnisse der vergangenen Jahre in Sachen Digitalisierung „brachial ein“. Auch, wenn Tablets für Kinder jetzt verfügbar seien, gebe es nicht ausreichend Datenleitungen. So fehlten in den meisten Schulen W-Lan-Zugänge. Der Bildungsexperten forderte, dass sofort 1000 neue Lehrer*innen eingestellt werden müssen, sowie ein landesweites Nachhilfeprogramm aufgesetzt werden sollte. In dem anschließenden Gespräch berichtete Schulleiterin Barbara Knöbl über die jetzige Situation an ihrer Schule: „Wenn die Schulgemeinschaft von Lehrer*innen, Schuler*innen und Eltern nicht so gut wäre und alle zusammenhalten würden, wäre die Situation momentan nicht zu stemmen.“  Lehrer*innen fühlten sich allein gelassen, vor allem auch bei der Herausforderung Fernlernunterricht. An ihrer Schule gebe es mittlerweile zwar ein „festes Fundament“ wie Unterricht und Schule stattfinden könne, aber „das mussten sich die Lehrer*innen allein erarbeiten. Da gab es keine Unterstützung.“  Technisch sei die Schule nicht ausreichend ausgestattet, so gebe es kein W-Lan, das erst für die kommende Jahre angekündigt sei. Auch ein Glasfaseranschluss stünde nicht zur Verfügung. „Die Stimmung im Kollegium ist angespannt, weil man nicht weiß, wie es weitergeht.“ Die Schulen in Sindelfingen hätten jedoch einen gemeinsamen Krisenstab und können sie sich so untereinander abstimmen. „Das ist ein großer Vorteil.“ Barbara Knöbl forderte von der Politik Schutzausrüstung für ihre Lehrer*innen: „Schutzmasken für den Unterricht sind dringend notwendig. Die müssen momentan von den Lehr*innen selbst gezahlt werden. Das ist nicht akzeptabel.“ Der Schüler Paul Schiller beschreibt die Situation der Schüler*innen als „nervig, aber aushaltbar.“ Was er momentan schlimm findet, sei das alle 20 Minuten bei Kälte gelüftet werden müsse. „Das funktioniert bei den Temperaturen jetzt einfach nicht mehr.“ Es sei ärgerlich, dass die notwendigen Luftfilteranlagen nicht besorgt würden. Gerade das AEG mit seinem musikalischen Profil würde sehr unter der jetzigen Situation leiden, da die Schulensembles nicht mehr jahrgangsübergreifend proben und keine Projekte und Konzerte stattfinden dürften. „Das ist traurig und da geht viel verloren, weil Schule mehr als Unterricht sein sollte,“ so der Oberstufenschüler. Lucienne Graupe, berufstätige Mutter von zwei Kinder und Elternbeirätin sagte: „Ich bin momentan über jede Woche froh, wo keines meiner Kinder in Quarantäne muss.“ Ihrer Meinung nach funktioniere Online-Unterricht für kleinere Kinder nicht. Diese könnten die Technik noch nicht selbst bedienen. Lucienne Graupe weiter: „Schulen haben nicht nur einen Bildungs-, sondern auch einen Betreuungsauftrag.“ Gerade Kinder mit Eltern, die keine Muttersprachler seien, würden bei Online-Unterricht komplett abgehängt. „Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen sind zurzeit alle auf sich selbst gestellt. Es fehlt Unterstützung,“ beklagte Graupe. Es herrsche unter den Eltern auch Angst, dass die Kinder sich anstecken könnten, da sie immer noch mit 30 Kindern in einer Klasse zusammensäßen. Zudem erhielten Kinder, die in Quarantäne müssen, keinen gesonderten Fernunterricht. Stattdessen werden sie so behandelt, als wären sie krank. Lucienne Graupe wünscht sich dafür Hybrid-Unterricht, damit Kinder in Quarantäne nicht den ganzen Lernstoff verpassten. Farina Semmler sagt zur aktuellen Arbeitssituation von Lehrer*innen: „Wir sind komplett allein gelassen. Jeder ist gezwungen vor sich ‚hinzuwurschteln‘, vor allem beim Online-Unterricht.“ Ein großes Problem sei, dass Lehrer*innen nicht mit dienstlichen PCs oder Laptops ausgestattet seien. Lehrer*innen seien während des Lockdowns teilweise von Kind zu Kind gefahren und hätten die Lernunterlagen persönlich vorbeigebracht. Die GEW-Vertreter*innen würden von Seiten der Landesregierung kaum eingebunden. „Ich verstehe nicht, warum man auf unser Expertenwissen nicht zurückgreift. Man hat das Gefühl, da oben sitzen Menschen, die schon lange keine Schule mehr von innen gesehen haben und gar nicht wissen, was ihre Beschlüsse für Auswirkungen haben,“ so Farina Semmler. In einem Ausblick forderten alle Gesprächsteilnehmer*innen eine schnelle zusätzliche Einstellung von Lehrer*innen, ein flankierendes Unterstützungssystem mit Schulsozialarbeit und Schulpsycholog*innen, sowie ein landesweites Nachhilfeprogramm. Die Digitalisierung müsse endlich an den Schulen ankommen, dazu brauche es dringend auch Fortbildungen für Lehrer*innen für Fernunterricht und digitales Lernen.

„Bildungspolitik ist seit jeher umstritten, aber dieses handwerkliche Versagen der Landesregierung ist bestürzend, weil es großen Stress und auch Leid bei allen Beteiligten auslöst. Es ist schlimm, wenn ein Kultusministerium in so einer Zeit nicht als Partner, sondern als Problem wahrgenommen wird, “ so der SPD-Landtagskandidat Florian Wahl abschließend.